Nr. 109 - 1. Mai 1981 - 10. Jahrgang
Wie ich als Bub in Amstetten das Ende des 2. Weltkrieges erlebte
(verfasst von Adolf Raffetseder)
Nach einem letzten Versuch der Deutschen, um St. Pölten
"Front" zu machen, stießen die Spitzen der russischen Armee, von
Osten kommend, in den Raum Amstetten vor, während von Westen her amerikanische
Streitkräfte die Enns überschritten, um sich mit dem russischen Alliierten zu
vereinigen.
Ich selbst - damals knappe sechs Jahre alt - war mir dieser
Ereignisse sowie ihrer Bedeutung nicht bewusst. Nur die ernsten und
nachdenklichen Gesichter der Erwachsenen ließen etwas von der Sorge um die
Zukunft ahnen, die sie bedrückte.
Seit den frühen Morgenstunden hörte man Detonationen. Die
flüchtenden deutschen Soldaten sprengten ihre Munitionslager. "Geh ja
nicht aus dem Haus!" war eine Ermahnung, die ich andauernd zu hören bekam.
Doch in einem günstigen Augenblick entschlüpfte ich mit meinem vierzehnjährigen
Bruder, der voll Neugierde und Tatendrang sich ein wenig umsehen wollte. Die
Ardaggerstraße war nur wenig belebt: ein paar Leute, die versuchten, ihr Ziel
mit raschen Schritten zu erreichen; ein versprengter Soldat, der wie besessen
in die Pedale eines Fahrrades trat und wohl trachtete, die Donau zu erreichen.
Wir gingen stadteinwärts. Beim Gasthaus Kickinger hatte sich eine
kleine Menschenmenge angesammelt, die auf etwas zu warten schien. Es hatte sich
nämlich die Kunde verbreitet, dass ein Voraustrupp der Amerikaner bereits in
Sicht wäre und wir somit von diesen besetzt werden würden. Nachdem wir uns zu
der Menge gesellt und nur kurze Zeit gewartet hatten, wurden wir Zeuge des
Eintreffens der Amerikaner in Amstetten. Vorweg kamen Panzer, dann Jeeps sowie
sonstige Fahrzeuge mit fremden Soldaten in braunen Uniformen, die
uns zum Teil zulachten und zuwinkten. Ein älterer Mann versuchte, sich bei den
Neuankömmlingen verständlich zu machen. Nach einigem Her und Hin schien er das
in Erfahrung gebracht zu haben, was er zu wissen wünschte, und er verkündete
enttäuscht, dass die Amerikaner nicht hierbleiben würden, sondern wieder bis
zur Enns zurückgehen und uns den Russen überlassen müssten. Den meisten der
Anwesenden schien dies nicht zu gefallen, sie machten betretene Gesichter.
Mein Bruder nahm mich an der Hand und drängte mich aus der Menge.
Er hatte genug gehört und gesehen, und wir strebten wieder unserem Zuhause in
der Ardaggerstraße zu, um die Neuigkeiten weiterzugeben. Ein Schulfreund meines
Bruders kreuzte unseren Weg, ließ sich von meinem Bruder informieren und wusste
ebenfalls etwas zu berichten; das im Gymnasium untergebrachte Soldatenlazarett
sei geräumt worden und sei vollkommen verlassen. Er möge doch mit ihm kommen,
damit sie sich gemeinsam etwas umsehen könnten. Mein Bruder sagte zu, wollte
mich aber zuerst daheim noch abliefern. Er schob mich bei der Haustüre hinein
und trug mir auf, unserer Mutter zu sagen, dass er bei seinem Freund sei
und sie sich nicht zu sorgen brauche. Ich stand eine Weile im Stiegenhaus,
anstatt jedoch nach oben zu gehen, verließ ich dieses wieder und lief meinem
Bruder nach, den ich bereits in einiger Entfernung mit seinem Kameraden gehen
sah. Bis ich die beiden eingeholt hatte, waren wir ihrem Ziele näher, als es zu
uns nach Hause gewesen wäre. So nahm er mich einfach mit.
Wir betraten zu dritt das als Lazarett verwendete Gebäude,
durchstreiften verschiedene Zimmer, wo wahllos Waffen verschiedenster Art
herumlagen, verloren aber bald den Freund meines Bruders aus den Augen, da mein
Bruder vollauf beschäftigt war, mich von diesem oder jenem abzuhalten. Nachdem
er gerade verhindert hatte, mich einer an der Wand lehnenden Maschinenpistole
zu nähern oder einen der zahlreich herumlehnenden Karabiner anzugreifen,
übersah er schließlich doch für einen Augenblick die auf einem Bett liegenden,
eierförmigen Dinger. Ein Griff, und ich hatte eines in der Hand und begann,
mich mit einem daran befindlichen Bolzen zu beschäftigen. Gerade noch
rechtzeitig erfasste mein Bruder die Situation, riss mir die Eierhandgranate,
die ich unbewusst gezündet hatte, aus der Hand und warf sie in die entfernteste
Zimmerecke. -
Als ich erwachte, fand ich mich im Krankenhaus wieder. Die
Splitter der explodierenden Granate hatten mir eine schwere Kopfverletzung
zugefügt, und ich hatte noch vor der Operation die letzte Ölung bekommen. Mein
Bruder war lediglich von der Druckwelle zu Boden geschleudert worden, sonst
aber völlig unverletzt geblieben. Schuldbewusst stand er an meinem Bett und
rang sichtlich mit den Tränen, obwohl er uns doch durch sein rasches Eingreifen
vor dem Schlimmsten bewahrt hatte.
Wie mir aus späteren Erzählungen bekannt wurde, hatte es in
mittel- und unmittelbarem Zusammenhang mit meinem Unglück aber auch noch andere
aufregende Ereignisse gegeben. So war das Rettungsauto, das mich ins
Krankenhaus bringen sollte, in die erste Welle eines Tieffliegerangriffes auf
Amstetten geraten, worauf der Fahrer anhielt und das Auto verließ, um vor dem
einsetzenden Geschoßhagel Schutz zu suchen. Jener Mann, der die Rettung für
mich angefordert hatte und den Transport begleitete, war sich bewusst, dass
keine Zeit zu verlieren und jede Minute kostbar war. Er trug mich den Rest des
Weges bis ins Spital, wo ich sofort operiert wurde und einen ganzen Tag
vollkommen bewusstlos lag. Indessen hatte ein Tieffliegerangriff der Russen,
der der abziehenden deutschen Armee galt, Tote, vor allem aber zahlreiche
Verletzte unter der Bevölkerung sowie den anwesenden Amerikanern gefordert;
auch der Kilianbrunnen ging in Trümmer. Die Russen hatten die in Amstetten
eingerückten Amerikaner für Angehörige der deutschen Armee gehalten und
angegriffen!
Ich selbst aber verdankte mein Leben zum ersten der Tatsache, dass
ein Mann mich auf seinen Händen ins Krankenhaus trug, als ich ohne Hilfe im
verlassenen Rettungsauto zu verbluten drohte, zum zweiten den Umstand, dass ich
zur Operation kam, ehe die große Zahl der Schwerverwundeten des erwähnten
Fliegerangriffes eingeliefert wurden, von denen vielen nicht mehr rechtzeitig
geholfen werden konnte.
Der Tag, an dem all dies passierte, war der 8. Mai 1945, jener
Tag, an dem die deutsche Armeeführung die Kapitulation unterzeichnet hat und am
Nachmittag die russischen Besatzungstruppen in Amstetten einzogen.
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